Vor einem Jahr schrieb ich, die damaligen Pläne würden heute wie Relikte einer antiken Kultur wirken. Aber die Realität? Ganz anders: Trotz Hype und Milliardeninvestitionen gleicht die Lage einem Déjà-vu. Die heutigen Pläne unterscheiden sich von denen des letzten Jahres nur graduell. Auf dem Feld der KI hat sich in der Praxis überraschend wenig getan. Die Showcases von damals werden recycelt und die groß angekündigten Fortschritte in der Entwicklung von Sprachmodellen sind in der Realität – abgesehen von ein paar Chatbots – bisher kaum angekommen.
Seit zwei Jahren beherrscht generative KI die Schlagzeilen. Jeder will auf der Welle reiten – auch dieser Beitrag. Doch der Fortschritt bleibt aus. Täglich schießen neue KI-Experten, Unternehmen und Tools aus dem Boden. Alles trägt das Label „KI“, ob KI drinnen ist oder nicht, spielt gar keine Rolle mehr; oft fehlt die Substanz. Gleichzeitig gibt es wenig umfassende Anwendungsbeispiele, die erfolgreich sind. Chatbots scheitern und beantworten komplexe Kundenanfragen nicht zufriedenstellend. Die wenigsten bieten Transaktion. Statt den Service zu verbessern, führen sie zu Frustration bei Kunden und einem erhöhten Arbeitsaufwand für Mitarbeiter.
Vor ein paar Monaten sprach ich mit Guido Teeuwen, VP bei Teleperformance. Auf die Frage, wie viele Kundenserviceprojekte mit KI arbeiten, antwortete er: „Weniger als ein Prozent.“ Das zeigt die Diskrepanz zwischen dem, was weithin verkündet wird, und der Realität. Selbst bei einer Verdopplung seitdem bliebe der Anteil gering; Prognosen von 2023 sagten voraus, 40 Prozent der Unternehmen würden aktiv ihr Investment in KI verstärken (McKinsey). Ja, die Investitionen sind groß; angekommen beim Customer Value ist jedoch wenig.
Wo sind also die umgesetzten Projekte? Oder: Woran scheitert die Umsetzung von generativer KI im Kundenservice?
Unzureichende Basis
Einmal ist die technische Plattform der Unternehmen noch nicht bereit und kann KI noch nicht unterstützen. Dann kommen der Datenbestand, das Wissensmanagement sowie die Cybersicherheit und der Datenschutz hinzu. Laut der Bain-Studie („Die vier spannendsten Trends“) aus Q4 2024 verschieben die führenden Technologieunternehmen ihre ursprünglichen KI-Pläne deutlich. Follower-Unternehmen bleiben starr auf Kurs; Letztere haben den Realitätsschock noch vor sich.
Unreife Tools
Was in Wahrheit nur die Idee einer Anwendung ist, wird häufig von Anbietern als fertiges Produkt vorgestellt – mit ach so vielen Referenzen. Das machen nicht nur kleine Start-ups, sondern auch die Platzhirsche. Während der Pilotierung kommt dann die Wahrheit ans Licht. Kunden, die auf „fertige“ Lösungen setzten, und zum Schluss doch hohen Anpassungsaufwand hatten, entscheiden sich dann, eigene Lösungen zu entwickeln – entweder auf der grünen Wiese oder mit Low-Codeoder No-Code-Baukästen (z. B. Salesforce, Microsoft Power oder Bubble.io).
Ähnlich steht es mit Funktionalität
Auf der CCW 2024 wurde von einem „KI-Service-Agenten- Leader“ die Verfügbarkeit von 52 Sprachen versprochen. In der Zwischenzeit schrumpften diese auf acht Tier-1-Sprachen. Der Grund? Unbekannt. Die Hypothese: Die Komplexität und die Kausalitäten im Kundenservice wurden unterschätzt. Eine Demo benötigt den hohen Aufwand für White- und Blacklisting nicht. Die Realität schon, wo LLMs an Alltagsbegriffen wie Städten, Marken, E-Mail-Adressen und Namen scheitern. Und selbst wenn die Funktionalität passt, kann die Latenzzeit bei VoiceBots der Killer sein. Erst gerade brach einer unserer Kunden einen Piloten ab, weil genau die Lantenz nicht in den Griff zu bekommen war.
Wir dürfen also gespannt sein, wie sich die Anbieter- Landschaft entwickelt. Viele der Konzepte, die mit dem Cash der letzten Finanzierungsrunde bis zur Release- Version entwickelt wurden, kommen auf dem Markt. Viele Anbieter müssen in die nächste Finanzierungsrunde, um das Geld für die Markterschließung einzusammeln. Käufer wissen das und sind vorsichtig.
Schnelle Entwicklung der Technologie
„KI entwickelt sich schneller, als der ROI erreicht werden kann. Und die nächsten Entwicklungsschritte sind dann vom technischen Aufsatz her keine Evolution, sondern eine Revolution“, so Pascal Dué, bei Vorwerk für die globale Kundenservicestrategie verantwortlich. Er meint, wir müssten bei der KI-Einführung komplett neu denken, denn wer Anfang 2024 eine Implementierung gestartet habe, habe heute eine Basis, die bereits „old school“ sei. Damals sei es um die Einbindung von LLMs in Prozesse gegangen, heute gehe es um die Prompt-Logik. Oder in meinen Worten: KI entwickelt sich schneller, als sie implementiert werden kann.
Mangelnde Ressourcen
In fast allen Unternehmen sind die IT-Ressourcen langfristig verplant. Eine kurzfristige Lücke in der Roadmap zu finden, um KI zu implementieren, ist fast unmöglich. Das Gleiche gilt für externe Berater, die Prozesse anpassen sollen. Henning Ahlert, bekannter CX-Berater, sagte mir kürzlich: „Leute zu finden, ist der zentrale Flaschenhals in meinem Geschäft.“
Organisatorische Bereitschaft – der menschliche Faktor
Nicht die Kundenberaterinnen und Kundenberater sind das Problem, denn sie sind es längst gewohnt, dass ihre Aufgaben automatisiert werden und ihre Arbeit ständig anspruchsvoller wird. Die Frage ist vielmehr: Sind die Kunden bereit für KI? Ist es die übrige Kundenservice- Organisation? Die Baustellen liegen in den Kundenservice-Organisationen.
Bei der Einführung von KI im Qualitätsmanagement haben wir bei ja-dialog festgestellt: Die Teamleads verlieren nicht nur einen Teil ihrer bisherigen Aufgaben, sondern müssen sich darauf einstellen, dass KI als Experte auftritt. Manche empfinden das als Autoritätsverlust. Ich meine: Eine Fehleinschätzung, denn jetzt können sie sich noch intensiver der Entwicklung „ihrer“ Kundenberater widmen – ob menschlich oder KI-basiert. Dennoch: Dieser Wandel gelingt nur, wenn er mit konzeptioneller Kompetenz begleitet wird.
Die Hausaufgaben für das Management
- Wo sind die Konzepte für die Zusammenarbeit von KI-Agenten und menschlichen Kundenberatern?
- Wer übernimmt die Verantwortung für welche KI-Anwendungen? Wer die Maintenance für Inhalt und Funktionalität? Liegt das in der IT oder im Fachbereich?
- Wie bereiten sich Teamleads auf ihre neue Rolle vor?
Unklarer ROI
Große Investments erfordern Entscheider, die sich für den Return verbürgen. Die Schwierigkeit: Trotz des Hypes können nur wenige Unternehmen echte ROIZahlen vorweisen. Gleichzeitig sehen wir Rotation in den Führungsetagen der Unternehmen mit den größten Kundenservice-Organisationen – keine Kombination, die für die langfristige Umsetzung einer KI-Roadmap spricht. Für mich passt dazu auch der Kommentar eines Ex-BCG-Partners, Mario Gamper: „Meine Systemberatung für Mittelständler dreht sich weniger darum, welche Systeme man einführen kann, als darum, welche Systeme man wieder rauswerfen kann.“ Denn die Kosten durch die verschiedensten Lösungen mögen im Einzelnen noch mit einer ROI-Rechnung zu rechtfertigen sein. In der Summe sind sie ein Kostenblock, der Firmen schnell die Luft abschnüren kann. Und tatsächlich verdienen die Pricing-Modelle von KI-Plugins mancher Last-Mile-Anbieter das Adjektiv „unverschämt“. Und wenn es um große Technologietransformationen geht, erinnern sich viele sicher noch an die Kostenexplosion nach „Lift-and-Shift“ in die Cloud. In dieser Gemengelage wartet man erst mal ab oder pilotiert auf Sparflamme.
Mein Fazit
Die großen Versprechen der generativen KI werden bisher nicht eingelöst. Statt eines besseren Services erleben wir Frust und steigende Kosten. 2025 und 2026 könnten wir das „Tal der Enttäuschungen“ erreichen: viele Projekte, die im Praxistest scheitern. Anbieter werden vom Markt verschwinden und die nicht gelösten organisatorischen Probleme beim Einsatz von KI werden sichtbar. Andererseits entwickelt sich KI konstant weiter, ihr Siegeszug ist unaufhaltsam. Wenn die generative KI wirklich Fahrt aufnimmt, hören die Herausforderungen nicht bei Unternehmen auf – sie verlagern sich auf die gesamte Gesellschaft: Energieversorgung (das menschliche Gehirn verbraucht mit seinen 20 Watt bis zu 30-mal weniger Energie als vergleichbare KICPUs), Veränderungen in der Arbeitswelt und die gesellschaftlichen Fragen des ethischen Einsatzes der KI sind Aufgaben, denen wir uns gemeinsam stellen müssen.
Veröffentlicht in: TeleTalk 02/2025